Entwicklung, Implementierung und Skalierung
Das Konzept der Dorfgespräche wurde in den Jahren 2017 bis 2019 im Rahmen eines Modellprojekts der
Bundeszentrale für politische Bildung im ländlichen Raum in Oberbayern entwickelt und in sieben unterschiedlichen Kommunen mit verschiedenen Varianten didaktisch erprobt und wissenschaftlich evaluiert. Ab 2020 wurde es mit einem Fokus auf Streitkultur durch verschiedene Kooperationspartner in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt weiter implementiert. Mittlerweile haben Dorfgespräch-Prozesse und Varianten zu Kommunalwahlen, Bürgerversammlungen und digitaler Umsetzung in mehr als 50 ländlichen Kommunen in Deutschland statt gefunden.
Im Landkreis Rosenheim, wo die Methodik der Dorfgespräche entwickelt wurde, wird das Projekt im Rahmen der
(Digitalen) Bildungsregion im Landkreis in der
Bewerbungsbroschüre als Leuchtturmprojekt (S. 89) vorgestellt. Es ist im Programm
'Land lebt doch!' mit seiner LandMaschine verankert und der Ansatz sowie ausgewählte Methoden werden in der
Methodensammlung der Landesarbeitsgemeinschaft Gemeinwesenarbeit in Hessen vorgestellt.
Die konzeptuellen Überlegungen, gesellschaftlichen Hintergründe sowie detaillierten methodischen Anleitungen zur Umsetzungen wurden 2019 im Verlag
Stiftung Mitarbeit in einer umfassenden
Handreichung publiziert, die Anfang 2022 in zweiter überarbeiteter und erweiterter Auflage erschienen ist. Die Erfahrungen der letzten Jahre, Variationsmöglichkeiten zur Methodik, Umgang mit Rechtspopulismus und eine aktualisierte gesellschaftliche Verankerung sind mit eingeflossen. Vorgestellt wird die Neuauflage im
Newsletter der Stiftung Mitarbeit.
Durch
Weiterbildungen wurden insgesamt über 50 Dialogmoderator*innen fortgebildet, die als professionelle Prozessbegleiter*innen Ehrenamtliche vor Ort unterstützen. Inspiriert und begleitet haben uns dabei insbesondere der
disKurs e.V. aus Jena, der in der Region weiterhin
Dorfgespräche durchführt, die Bewegung der Ökodörfer im Global Ecovillage Network (GEN) Deutschland mit ihrem Projekt
Leben in zukunftsfähigen Dörfern - im Nachfolgeprojekt
Wandelreise wurden über 40 spannende Initiativen auf dem Land besucht und die Erkenntnisse in einer kompakten
Online-Handreichung verdichtet. Weitere Dorfgesprächprojekte fanden in Sachsen durch das
Erich-Kästner-Haus Dresden statt. Im bayerischen Kronach wurden seit 2021
virtuelle Dorfgespräche durch das
Kommunalmarketing Kronach Creativ durchgeführt. Im Rahmen der Modellregion
Engagiertes Land der Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt (DSEE) begleiten wir die
Freiwilligenagentur pack ma's zum Aufbau eines Vereinsnetzwerks im im bayerischen Landkreis Rottal-Inn sowie aktuell die Gemeinde Falkenberg in Niederbayern. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft fördert seit einiger Zeit explizit
Soziale Dorfentwicklung. In diesem Kontext sind wir zusammen mit dem Amt für ländliche Entwicklung Unterfranken in der Gemeinde
Dingolshausen seit Mitte 2023 tätig. Daneben haben Ansätze des Dorfgesprächs u.a. Eingang gefunden in Projekte des Programms
Miteinander reden der Bundeszentrale für politische Bildung.
Das Gesamtprojekt wird vom
Netzwerk Politische Bildung Bayern und dem Verein
interpunktionen - Wir versetzen Zeichen für Demokratie getragen. Maßgeblich entwickelt und begleitet wurde und wird es von Florian Wenzel, freiberuflicher Trainer und Prozessbegleiter und Dr. Christian Boeser, Akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Erwachsenen- und Weiterbildung der Universität Augsburg. Ein
Interview mit beiden Initiatoren fand im Rahmen des 4. Tutzinger Diskurses "Miteinander vor Ort" statt.
Fokus eines Dorfgesprächs-Prozesses sind offene
wertegebundene und beziehungsorientierte Dialoge mit persönlicher und emotionaler Begegnung. Vor Themenbearbeitungen oder Ergebnisorientierung stehen unmittelbare Erfahrungen der gelebten Vielfalt ganz unterschiedlicher Menschen im Dorf, die ihre Belange eigenverantwortlich in die Hand nehmen. Damit ist der Ansatz ein Beitrag zur
Demokratie als Lebensform, die unser Miteinander gestaltet.
Um dies zu erreichen, ist ein persönlicher Einbindungsprozess formeller und vor allem auch informeller Schlüsselpersonen im Dorf durch 'eins-zu-eins-Gespräche' (Saul Alinsky) notwendig, um jenseits von externer Expertise einen Kreislauf von
Wertschätzung, Teilhabe und Identifikation in Gang zu setzen.
Mit Hilfe der Dorfgespräche werden neue Orte und Wege der Kommunikation eröffnet, die einen
intensiven Austausch aller Beteiligten ermöglichen: zwischen alteingesessenen Bürgerinnen und Bürgern und Neuzugezogenen, zwischen Vereinsverantwortlichen, nachbarschaftlichen Helfer*innenkreisen und Geflüchteten, zwischen engagierten Einzelbürger*innen, Senior*innen, Kindern und Familien sowie allen weiteren ortsansässigen interessierten Personen.
Der Kern ist letztlich eine
'Dorferneuerung in den Köpfen': Fokussiert wird auf Einbindung, Begegnung, Auseinandersetzung mit Unterschieden und Konflikten sowie die Aktivierung individueller und kollektiver Ressourcen für intrinsisch motiviertes Handeln. In
drei Dialogabenden wird der Dreischritt
persönliche Begegnung, produktive Auseinandersetzungen und gemeinsames Handeln durchgeführt. Damit werden bestehende Strukturen nicht verneint – es werden jedoch neue und unerwartete moderierte Begegnungen ermöglicht, die jenseits eingefahrener Institutionen und Vorgehensweisen andere Ideen und Kreativität ermöglichen können.
Gerade die aktuellen gesellschaftliche Krisensituation, die Zuspitzung der unterschiedlichen Positionierungen inmitten von Nachbarschaften und Familien lenkenden Blick auf ganz grundsätzliche Fragen:
- Wie gehen wir als Gesellschaft, als dörfliche Gemeinschaft und als Individuen mit denjenigen um, die sich nicht in eigene Denk- und Handlungsschemata einordnen lassen?
- Welche Wertvorstellungen und sinngebenden Haltungen liegen dem zugrunde, was wir befürworten oder ablehnen?
- Wer sind »Wir« überhaupt? Definieren wir uns in der Abgrenzung zu anderen oder ist »Wir« ein integrativer Begriff, der auch Vielfalt und Spannungen einschließt?
Mit diesen Fragestellungen verorten sich die Dorfgespräche nicht nur als Beteiligungsformat, sondern verfolgen vor allem einen politischen und demokratierelevanten Anspruch: den Erhalt einer offenen Gesellschaft, die
aktiv und produktiv mit Vielfalt umzugehen weiß.
Jenseits theoretischer, konzeptueller und methodischer Überlegungen ist es grundsätzlich die Haltung einer offenen Neugier auf Menschen im ländlichen Raum, die motiviert und beflügelt, immer wieder erstaunt zu sehen, welche Ressourcen vorhanden sind und welch eigene stillschweigende Annahmen manches Mal einen bescheidener zurück lassen angesichts der Größe des unmittelbaren Handelns auf dem Dorf.